1. Februar 2024

FILMREVIEW / FILMKRITIK "THE BALLAD OF SONGBIRDS AND SNAKES"

SNOW LANDET IMMER OBEN:
MEINE GEDANKEN ZU "DAS LIED VON VOGEL UND SCHLANGE" VON SUZANNE COLLINS



Als ich ungefähr 15 Jahre alt war, war "Tribute von Panem" meine ganze Persönlichkeit. Ich trug Fan-Schmuck, schrieb eine Fanfiction und kannte jede einzelne Zeile aus dem ersten Film. Manche mögen das als Besessenheit bezeichnen. Trotzdem habe ich es geschafft, "The Ballad of Songbirds and Snakes" bis jetzt, nach der großen Enthüllung des Films, nicht anzurühren. Ich habe die Bücher im Laufe des letzten Jahres noch einmal gelesen und war auf jeden Fall wieder sehr begeistert und stolz auf mein jüngeres Ich, weil ich ein so schönes Stück Belletristik so gut bewertet habe. Ende des Jahres habe ich dann das Prequel gelesen und ihm nur 2 von fünf Sternen gegeben. Aber vielleicht habe ich Suzanne Collins ja Unrecht getan. Lasst uns einige meine Gedanken auswerten. Achtung, diese Rezension enthält Spoiler!

Der bettelarme Corianalus Snow 
Wir lernen Snow, sowohl im Buch als auch im Film, als sehr armen Waisen kennen, der nach außen hin verzweifelt versucht, den Schein einer wohlhabenden Familie aufrecht zu halten. Die Behausung der Snows ist heruntergekommen, einige Ratten laufen frei herum. Die Bedeutung des sogenannten Plinth Stipendiums ist für Snow unermesslich. Dafür hat er jahrelang sehr hart gearbeitet. Als er erfährt, dass die Voraussetzung für das Stipendium verändert wurden und ab sofort mehr sind als seine ausgezeichneten Noten, ändert Snow seine Taktik. Dem jungen Mann wird ein Tribut aus Distrikt 12 zugeteilt, den er betreuen und im ganzen Kapitol bekannt machen soll: Lucy Gray Baird.  

Der Singvogel aus dem äußeren Distrikt
Lucy Gray Baird gehört zu den sogenannten "Covey", die angeblich singend und musizierend durch das Land zogen, bis sie in Distrikt 12 landeten. Die Hintergrundgeschichte des jungen Mädchens bleibt im Verborgenen und sie umgibt sich mit Rätseln. Während sie Snow nicht von Anfang an misstraut, bleibt sie während der Spiele auf seine Hilfe angewiesen. Immer wieder erweist sich Snow als Lucy Gray's einzige Überlebensmöglichkeit. Eine sehr unauthentische Liebesgeschichte bringt Snow schließlich nach Abschluss der eher unspektakulären Spiele dazu, eine Mitarbeiterin des Kapitols zu bestechen. Er reist als Friedenswächter nach Distrikt 12, wo Lucy Gray Baird als Sieger der Hungerspiele gefeiert wird. Sie nähern sich an und wollen schließlich gemeinsam Panem hinter sich lassen.

Der unausgesprochene Abschied
Auf dem Weg in die Wälder spricht Snow über die Menschen, die er auf dem Gewissen hat und nennt dabei die Zahl von drei Personen. Auf Lucy Gray's alarmierte Frage, wer die dritte Person gewesen sei, lügt Snow und versucht, sie zu beruhigen, indem er erklärt, ein Teil von ihm habe sterben müssen, um mit ihr in die Wälder ziehen zu können. Lucy Gray, offensichtlich nicht zufrieden mit dieser an den Haaren herbeigezogenen Erklärung, entfernt sich nach Ankunft in der Hütte am See von ihm, um Katniss zu sammeln. Eine sehr schlecht gemachte, zwanghafte Verbindung zu der Hauptreihe um Protagonistin Katniss Everdeen. Lucy Gray und Snow sehen sich nie wieder, nachdem er die Tatwaffen finden, mit denen er die Bürgermeistertochter erschossen hat. Verschreckt läuft er mit dem Gewehr durch den Wald, hat dabei das Gefühl, von Lucy Gray beobachtet zu werden, und schießt mehrfach in die Luft. Er kehrt danach zurück in Distrikt 12 und reist zurück ins Kapitol, wo Doktor Gaul ihn aufklärt, dass seine Zeit als Friedenswächter eine Art Test gewesen sei, den Snow bestanden hätte. 

Das unspektakuläre Ende der Geschichte
Die Fakten sind: Lucy Gray Baird überlebt. Ob sie in den 12. Distrikt zurückkehrt, oder in Richtung von Distrikt 13 weiterzieht, steht in den Sternen. Der Leser erfährt nichts über ihren weiteren Verbleib. Dass Snow zurück ins Kapitol beordert wird, überrascht. Die hinterlistige Doktor Gaul hatte ihn mit der Zeit als Friedenswächter auf Herz und Nieren testen wollen und möchte ihn nun höchstpersönlich unterrichten. Für Snow fallen die Würfel: die Familie Plinth adoptiert ihn quasi, er studiert unter Doktor Gaul und tötet den Erfinder der Spiele, der einst ein guter Freund seines Vaters war. Die Grundsteine für sein späteres Leben als eiskalter, vom dreisten Mädchen aus Distrikt 12 getäuschter und zurückgelassener Mann, sind gelegt. Für mich war weder im Buch noch im Film richtig klar, was für ein Spiel Snow spielt. Die Gefühle für Lucy Gray Baird wirkten spätestens ab der gemeinsamen Zeit in Distrikt 12 aufrichtig, sonst hätte er sich auch nicht entschieden, mit ihr in die Wälder zu ziehen. Aber dass ihn der Hass dann so zerfressen soll, wobei ihm doch eigentlich klar sein müsste, dass es sein Vertrauensbruch war, der Lucy Gray Baird das Weite hat suchen lassen, war für mich nicht unbedingt schlüssig. 

Tigris who?
Als ältere Cousine wächst Tigris mit Corionalus bei der gemeinsamen Großmutter auf, nachdem sie, wie ihr Cousin, ihre Eltern im Krieg verliert. Es ist kaum etwas über die bekannt, außer, dass sie sehr modeaffin ist. Im Buch stellt Snow die vorsichtige Behauptung auf, Tigris würde ihren Körper verkaufen, um die Familie am Leben zu halten. Im zweiten Teil des Films "Mockingjay" spielt Tigris eine kleine Rolle, als die übrig gebliebenen Rebellen des Startrupps bei ihr Unterschlupf finden, als sie hilflos durchs Kapitol streifen. Cassida bekennt sich dazu, Tigris zu kennen. Katniss erkennt Tigris als eine ehemalige Stylistin bei den Hungerspielen. Tigris erklärt, Snow habe sie schließlich ausgemustert, nachdem sie zu hässlich geworden sei. Tigris‘ Persönlichkeit wirkt in beiden Büchern eher flach, im Prequel fast wie an den Haaren herbeigezogen. Nichts deutet vorher auf eine Verbindung zwischen Tigris und Snow hin. 

Im Film gibt es zum Ende hin eine Szene, in der Snow sich an Tigris wendet, und sie fragt, wie er aussehe. Wir erinnern uns, dass Tigris im Zuvor bereits gesagt hat, dass ihre Erinnerung an Snows Vater blass ist, dass sie sich lediglich an den ausgeprägten Hass in seinen Augen erinnert. Tigris antwortet Snow, er sehe genauso aus wie sein autoritärer Vater. Tigris deutet damit bereits die weitere Entwicklung ihres skrupellosen Cousin an. 

Während die Tribute in der Arena um ihr Überleben kämpfen, zeigt sich Tigris angewidert von den Praktiken des Kapitols, appelliert mehrfach an Snows Menschlichkeit und Empathie. Obwohl sie ihre Missgunst dem Kapitol nicht ausdrücklich äußert, ist ihre spätere Entwicklung zur Rebellengehilfin durchaus denkbar. Für mich stellt sich die Frage: Warum wird Tigris überhaupt Stylistin bei den Hungerspielen? Wenngleich ihre ganze Natur der Unmenschlichkeit widerspricht? Eine Theorie wäre, dass Snow, wie von Dr. Gaul mehrfach angesprochen und angestrebt, zum Spielmacher aufsteigt und seine Cousine engagiert, um ihr ein festes Gehalt zu ermöglichen. Während der zehnten Hungerspiele hausen die Tribute in ihren zerfledderten Klamotten aus dem Distrikt in einen Affenkäfig und haben keine Gelegenheit, sich umzuziehen. Es ist also damit zu rechnen, dass noch ein paar Jahre dazwischenliegen, ehe bei den Spielen ein Stylist für die Tribute benötigt wird. 

Die Symbolik von Vogel und Schlange
Sehr gut gelungen sind die Symbole von Schlange und Vogel, die sich in Film und Buch immer wieder finden. Zum einen sind sowohl Spotttölpel im Gespräch, zum anderen ist das Symbol der Schlange sehr stark durch den Einsatz als Akt der Rebellion seitens Lucy Gray, als diese der Bürgermeistertochter als Racheakt bei der Ernte die Schlange ins Kleid steckt. Sie scheint eine regelrechte Schlangenflüsterin zu sein. In der Arena selbst setzt die Spielmacherin unzählige Schlangen ein, um den Tributen eine Lektion zu erteilen und um sie zu töten. Nur, weil Snow seinem Tribut geistesgegenwärtig hilft, indem er ein Taschentuch mit ihrem Geruch in den Schlangenkäfig wirft, greifen die Schlangen das junge Mädchen nicht an. Später wird Snow als Friedenswächter in Distrikt 12 eingesetzt (lassen wir an dieser Stelle mal außer Acht, dass ich es äußert unwahrscheinlich fand, dass er die Einteilung durch ein bisschen Geld manipulieren kann, zumal der Erfinder der Spieler ihn mit der Ernennung als Friedenswächter bestrafen will) und hat hier unter anderem die Aufgabe, die frei herumfliegenden, mutierten Vögel einzufangen. Die Spielmacherin Doktor Gaul möchte mit diesen experimentieren. Snow nutzt eine sich bietende Gelegenheit und macht mit einem der Vögel eine Aufnahme, die später das Todesurteil seines einzigen Freundes, Sejanus Plinth, ist. 

Sejanus Plinth - ausgenutzt und verraten
Die Verbindung zu Sejanus war für mich von Anfang an seltsam. Durch den hohen Rang seines Vaters, der mit seiner Familie aus Distrikt 2 ins Kapitol übergesiedelt ist, kann Sejanus nicht gerade behaupten, ihm hätte es im Leben an etwas gemangelt. Trotzdem ist er unzufrieden mit seinem Leben im Kapitol, ist ein absoluter Außenseiter und sehr offensichtlich von seinen Mitschülern mehr geduldet als wirklich akzeptiert. Mir ist es ein absolutes Rätsel, weswegen Sejanus sich ausgerechnet an Snow wendet; hier findet keine vertrauliche Interaktion statt, die erklären würde, warum Sejanus Snow als seinen "einzigen Freund" betrachtet und ihm sogar in seine Position als Friedenswächter folgt. Während der Spiele, als Sejanus sich in die Arena schleicht (wofür er scheinbar einen vor der Tür postierten, lebensmüden Friedenswächter besticht), wird Snow von Doktor Gaul beauftragt, zu ihm zu gehen und ihm gut zuzureden. Diese Tat, die Sejanus als Akt der Freundschaft zu werten scheint, geschieht für Snow rein aus eigenen Intentionen. Später verrät Snow Sejanus und ist auch offensichtlich frustriert, hat kurz Schuldgefühle, für den Tod seines Freundes verantwortlich zu sein. Schnell kann er diese Gefühle ablegen und wird als "bester Freund" ihres verstorbenen Sohnes in die Familie Plinth wie ein eigener Sohn aufgenommen. Das hat mich sehr angewidert, sodass ich jegliche Sympathie für Snow zu diesem Zeitpunkt verloren habe. 

Ist Lucy Gray Baird die Großmutter von Katniss?
Es gibt zahlreiche Fantheorien, die vermuten, Lucy Gray Baird könnte Katniss' Großmutter sein. Dafür spricht zum Beispiel, dass Katniss das von Lucy Gray Baird komponierte Lied vom Henkersbaum kennt, das später in Distrikt 12 und in ganz Panem verboten ist. Beide haben ein Talent für das Singen und haben olivfarbene Haut, dunkle Haare. Suzanne Collins liefert uns jedoch keinen handfesten Beweis für eine mögliche Verwandtschaft. Ebenso verhält es sich mit der Theorie, Lucy Gray könnte Alma Coin sein, die Anführerin von Präsident 13. Neben den grauen Haaren von Coin und dem Zweitnamen von Lucy Gray, gibt es keine wirkliche Korrelation. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass Suzanne Collins den Leser hier auf eine etwas eindeutigere Fährte lockt. 

Das Prequel zu "Tribute von Panem": Eine einzige Enttäuschung?
Ich war so verdammt enttäuscht von diesem Roman. Während mir Titel und Cover total zugesagt haben, fand ich bereits die Idee eher weniger spannend. Glücklicherweise haben die Hungerspiele an sich (nach der Vorbereitung) weniger Raum eingenommen als erwartet. Ich hätte mir gewünscht, dass wir mehr über Panem und die Geschichte der schwer gebeutelten Nation erfahren, stattdessen plätschert vor allem der Anfang eher seicht dahin. Das erste spannende ist der Tod von Arachne, als ihr Tribut sie am Zoogehege vom Inneren des Käfigs packt und ihr die Kehle aufschlitzt. Das war unerwartet und hat mir neue Hoffnung auf den weiteren Fortgang der Geschichte gegeben. Am spannendsten war für mich definitiv der dritte und letzte Abschnitt, in dem Snow als Friedenswächter abgestellt wird. 

Die Charaktere haben für mich keinerlei Gefühle oder Emotionen transportiert, wenn man Sejanus außer Acht lässt. Er ist der einzige, der mehr als drei Gehirnzellen zu haben scheint und nicht zu allem Ja und Amen sagt, was das Kapitol vorgibt. Abgesehen von Casca Highbottom, dessen Morfix-Sucht sich Snow am Ende zunutze macht. Ganz nebenbei: es sind ganz schön viele Leute abhängig von dem Zeug. Um meine Gedanken auf den Punkt zu bringen: Den Sinn und Zweck hat das Prequel meiner Meinung nach nicht erfüllt. Die Erklärung, warum Snow so böse und abgekartet wurde, war für mich eher ein Witz. Er wurde von einem Mädchen aus Distrikt 12 sitzengelassen, weil er gelogen hat, sie clever genug war, um eins und eins zusammenzuzählen und ihn als Mörder seines angeblich "besten Freundes" identifiziert hat. Ich hätte mir mehr erwartet. 

Gedanken zum Film
Perfekt eingefangen haben die Regisseure des Prequel die einzigartige Atmosphäre im Kapitol. Trotz der herrschenden Hungersnot und der Anfänge der Spiele war ich restlos begeistert, wie fantastisch sich die ausgewählten Drehorte, die überragenden Kostüme und die gecasteten Schauspieler in Summe in ein Panem der Vergangenheit verwandelten. Meine Freunde waren nicht so begeistert und haben mehr Potenzial im Film gesehen. Dafür, dass ich das Buch so misslungen fand, wirkte der Film für mich wie ein Rohdiamant. Lediglich der Verrat an Sejanus war eher kurz gehalten, sodass ich nicht sicher bin, ob ich ihn in seiner Gänze verstanden hätte, ohne das Buch gelesen zu haben. Aber auch das ist eine alte Leier, im Film kann zwangsläufig nicht jedes Detail auftauchen, sonst wäre es ein achtstündiges Video, das kein Mensch ansehen will. Ich fand den Film in jedem Fall gut gelungen, sowohl stilistisch als auch von der wie im Buch gehandhabten Aufteilung in drei Teile.

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Murray Close / © Lionsgate / Courtesy Everett Collection

Was waren eure Emotionen während des Films? Wie hat euch das Prequel befallen?
Habt auch ihr eine Theorie, ob Lucy Gray Baird in den anderen Büchern nochmal auftaucht? 

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